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Interview mit Prof. Carl Fingerhuth



Gespräch mit Norbert Paul von der Redaktion Mobilogisch



Sie sind 1936 geboren worden, sind also mitten in der Zeit der autogerechten Stadt als Architekturstudent fachlich sozialisiert worden. Eine Zeit, in der man sich scheinbar unausweichlichen Rationalitätsanforderungen unterwarf, soweit ich das als später geborener beurteilen kann. Wie haben Sie damals die Vorstellungen von Planung des öffentlichen Raumes erlebt?


In meiner Studienzeit – von 1956 bis 1959 - an der Architekturabteilung der ETH-Zürich waren Natur, Landschaft, Denkmal oder Stadt ausgeblendete Themen. Die Natur war bei den Agronomen, die Landschaft wurde den Gärtner überlassen und die vorhandene Stadt war eine Störung, die den radikalen Verkehrsplanungen im Wege war. Ich erlebte Architektur als Planung von einzelnen Gebäuden, in ihrer Gestalt bestimmt von einem Dogma für die gute und wahre Form. Das Thema meiner Diplomarbeit war ein Projekt für ein Technisches Museum, ohne Vorgabe eines Ortes, als Prototyp, der überall in der Welt brauchbar sein sollte. Die spezielle Herausforderung bestand darin, alle zehn Abteilungen jederzeit unabhängig vom Ganzen erweitern zu können. Das Motto der Zeit war noch nicht „Grenzen des Wachstums“ sondern „Wachstum ohne Grenzen“. Der öffentliche Raum der Stadt war das, was übrig blieb, wenn die Häuser geplant worden waren.



Wann ist es zu einer Hinwendung zu den Aspekten jenseits der genuin technischen Aspekte gekommen?


Unbewusst vielleicht schon bei der ersten Anstellung - als Archäologe beim Schweizer Institut für Ägyptische Bauforschung in Kairo. Bei Rettungsgrabungen in Nubien, in dem Gebiet das vom neuen Staudamm bei Assuan überschwemmt werden würde, zeigte sich mir die Stadt bei Bêt-el-Wali als ein Palimpsest – ein immer wieder überschriebener Text. Zu unterst ägyptische Tempelbauten, aus der Zeit von Ramses II; darüber römische Anlagen, mit Einbauten für einen Isis-Kult mit Betten für Heilschlaf; bei einem Grab eines Wüstenfürsten aus dem ersten Jahrtausend unserer Zeitrechung ein „Bierglas“  aus einer römischen Glasmanufaktur; in den Ramses-Tempel eingebaut letzte Spuren einer koptischen Kirche und rings herum wunderbare zeitlose Wohnbauten aus Lehm für die Menschen jener Zeit. Jede Schicht war von ihrem Zeitgeist, ihren Bedürfnissen, Werte und ihrer Spiritualität geprägt.


Die zweite Erfahrung erlebte ich ab 1964. Ich hatte mich mit einem Büro für Raumplanung selbstständig gemacht. Durch Auflagen eines neuen Gewässerschutzgesetzes, was ich heute als ein erstes Phänomen einer ich neu zeigenden Spiritualität verstehen kann, wurden die Schweizer Gemeinden verpflichtet verbindliche Flächnutzungspläne zu erstellen. Mein „Geschäft“ war die Raumordnung geworden, bei der Landschaft, Siedlung und Infrastruktur als ein Ganzes betrachtet werden musste.  Dabei kam es fliessend auch zu einem immer umfassenderem Verständnis des Raumes, das aus einer zweidimensionalen Sicht der Welt zum Bedürfnis nach  dreidimensionalen städtebaulichen Konzepten führte. „Raumplanung und Städtebau als eine politische Aufgabe“ wurde zum Signet meiner Firma.


Dies führte zur dritten Erfahrung. 1979 wurde ich als „Kantonsbaumeister“ von Basel für die Transformation des Raumes einer Stadt zuständig, einer zweitausend Jahre alten, dynamischen, komplexen und widersprüchlichen Stadt. In der Auseinandersetzung mit Bedürfnissen und Emotionen, Ängsten und Hoffnungen, Machtansprüche und Solidarität der Menschen einer Stadt musste immer wieder zwischen Erneuerung und Kontinuität abgewogen werden. Die Stadt zeigte sich als Holon. Grosses und Kleines waren miteinander verknüpft. Häuser, Strassen und Plätze, Nutzung und Gestalt mussten als Ganzes gesehen werden. Pläne waren nicht mehr heilige Schriften sondern Instrument zur Begleitung und Abbildung von Prozessen.



Sie haben 1992 den sicherlich nicht uninteressanten und sicheren Posten des Kantonsbaumeisters in Basel aufgegeben und sind seitdem selbstständig tätig. Können Sie jetzt Projekte begleiten, die in Basel nicht möglich waren oder was hat Sie zu diesem Schritt bewogen?


Nach vierzehn Jahren Verantwortung für eine Stadt war ich 56 Jahre alt geworden, in der biblischen Lebensstruktur acht mal sieben oder 4mal 14 Jahre. Ich hatte das Bedürfnis nur noch für mich selber zuständig zu sein, ohne Firma oder Institution. Ich wurde an unbekannte Orte und für neue Aufgaben eingeladen. So entstanden Vorlesungen, Bücher und Betreuung von Prozessen in vielen Räumen unserer Welt. Es gab mir Spielraum andere Erfahrungen zu integrieren.



In einem Interview haben Sie gesagt, dass Stadtplanung spiritueller werden müsse. Das ist eine überraschende Antwort. Können Sie näher erläutern, was Sie damit meinen?


Der Schweizer Seelenarzt C.G. Jung hat immer wieder von den von der Rationalität verdrängten ebenso bedeutungsvollen Potentialen des Menschen berichtet. Er hat mir gezeigt, wie die obsessive und exklusive Fokussierung des Menschen auf sein Denkvermögen in den letzten zweitausend Jahren das Wahrnehmen der Welt mit unseren Sinnen, mit unseren Gefühlen und mit unserer Intuition diskreditiert hat. Wir erleben jetzt eine epochale Neuorientierung, die von diesen verschütteten Potentialen getragen ist.


Mit grosser Kraft zeigt sich heute die Sehnsucht der Menschen nach der Reintegration ihrer Sinnlichkeit, Emotionalität und Spiritualität. Die Architekten hadern jedoch immer noch mit der Kritik an der dominant von der Rationalität geprägten Moderne. Auch sie und ihre Schulen werden sich auf die neue Komplexität und die Widersprüchlichkeit der Stadt jenseits der Moderne einlassen müssen.

Spiritualität handelt vom Bewusstsein des Menschen nicht einsam in einem fremden Raum zu leben sondern Teil eines grösseren Ganzen zu sein. Die Religionen können den Menschen nicht mehr dort hin begleiten. Sie sind mit den Abgrenzungen gegen andere Glaubenssysteme so beschäftigt, dass sie immer mehr Menschen in ihrem inneren Wissen und ihrer Intuition nicht mehr erreichen.


Was ich meine, wenn ich sage, dass die Betreuung der Transformation der Stadt stärker auch auf das neu sich zeigende spirituelle Bedürfnis eintreten soll:

Spiritualität ist Suche nach der Einheit und Auflösung der Trennungen. Diese Trennung gibt es im Inneren des Menschen zwischen seinem Körper und seiner Seele. Der heilige Augustinus hat geschrieben, der Körper sei der Esel, den er zum Reiten brauche.

Diese Trennung gibt es aber auch in der äusseren Welt, im speziellen zwischen Menschen – und ihrer Stadt – und der Natur. Die moderne westliche Stadt ist ein der Natur entfremdeter Raum. Eine spirituelle Stadt müsste versuchen diese „Separation“ abzubauen. Wir müssten versuchen, Nachhaltigkeit nicht nur als rational-technische Aufgabe zu verstehen, die von unserer Angst von einem kollektiven Tod geprägt ist, sondern zu einem Gefühl der Einheit von Mensch, seiner Stadt und der Natur zurück zu kommen.

Abtrennung besteht aber auch in der Zeit. Die moderne Stadt hat die alte Zeit als vergangene Zeit abqualifiziert. Wenn die Stadt mehr ist als nur der Esel, den die Gesellschaft reitet, muss die Vergangenheit als Erfahrungen mit Bedeutung gesehen werden.

Eine spirituelle Stadt wäre auch eine gerechte Stadt, die Vielfalt und Widersprüchlichkeit nicht als Störung zur Kenntnis nimmt. Sie wäre auch eine schöne Stadt, eine Stadt um die sich die Menschen mit ihrer Liebe kümmern, in der sie zu Hause sein wollen, einzeln und gemeinsam.



In dem Interview äußeren Sie sich auch sehr positiv zum Konzept von Shared Space, dass ja in der verkehrspolitischen Diskussion zur Zeit heiß diskutiert wird. Wenn ich Sie in richtig verstehe fasziniert Sie die Reduktion, die dieses Konzept mit sich bringt. Aber die Nachkriegsplanung hat ja auch – so finde ich – starke Reduktion der Vielfalt und Abwechslung betrieben und – wie wir heute sagen würden – copy & paste angewandt. Mit möglichst wenig Aufwand scheint damals versucht worden zu sein, möglichst viel zu planen. Reduktion muss also wohl nicht per se positiv sein. Was für eine Reduktion braucht es, um den öffentlichen Raum menschlich und ökologisch zu gestalten?


Shared Space ist ein Ausdruck dieser neuen Spiritualität. 1986 war diese Philosophie eines der zentralen Themen bei der Transformation des Bahnhofquartiers in Basel, auch wenn ich mich gehütet habe, dabei von Spiritualität zu reden. Wir haben die Fussgänger aus dem unwirtlichen Untergeschoss an das natürliche Licht heraufgeholt und sie zu gleichwertigen Partnern der anderen Verkehrsteilnehmer gemacht. Jetzt muss Jeder auf Jeden Rücksicht nehmen und dies in einem Raum, wo es Raum gibt um Bäume zu pflanzen und an der Sonne zu sitzen.



Mit diesen Überlegungen fordern Sie eine Veränderung des Selbstverständnisses von Planern, von den Architekten bis zu den Raumplanern. Haben sich die Herausforderungen an die planenden Disziplinen verändert oder wäre dieses andere Verständnis nur eine bessere Antwort auf gleichgebliebene Herausforderungen?


Mit dem neuen Bewusstsein entstehen in der Stadt neue Bedürfnisse, Ziele und Träume. Diese müssen in den Raum transformiert werden, damit die Menschen der Stadt sich mit ihrer Stadt identifizieren und sie als den Körper ihrer Gesellschaft akzeptieren und lieben. Dies kann nicht ein linearer Prozess sein, bei dem eine alte Stadt durch eine neue Stadt ersetzt wird. Es braucht eine ständige, respektvolle und kreative Betreuung der Transformation der Stadt. Patrick Abercrombie, der Stadtplaner von London nach dem zweiten Weltkrieg, hat dafür ein schönes Profil definiert, das von drei Eigenschaften geprägt ist: Der Planer muss mindestens vierzig Jahre alt sein, er hat die Welt kennen gelernt. Er muss wissen, dass Wasser nur bergabwärts fliesst und – das ist für mich das Wichtigste – er muss zuhören können. In dieser Rolle ist der Planer nicht mehr in erster Linie Prophet. Er ist zum „Übersetzer“ geworden. Er hat aber auch eine gestalterische Aufgabe und dass ist der Ort wo er kompetent sein muss – er muss dem Formlosen Form geben – als Designer, Ingenieur, Architekt, Stadt- oder Landschaftsplaner.




Seelisberg, 30. September 2011